Vatermord
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- Philip Schlusslicht
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Es war ihr schönstes Geschenk für alle. Sie hatte lange darüber nachgedacht es richtig zu verpacken, dass es niemanden verstören und keine Schuld zulassen würde. “Ein alter Mann stirbt, eine Familie ist frei”, so stand es auf der Grußkarte. Es gäbe ihn, den Beweis, wäre er nicht im Kaminfeuer zerflammt. Doch so bleiben uns nur flackernde Erinnerungen an diesen letzten Befreiungsschlag und geheuchelte Unschuld.
Ein Herzschlag sei es gewesen. Und im Krankenhaus seien dann seine Lungen verwässert, so steht es in der Akte. Keine Ermittlungen, dass war Voraussetzung. Daher auch der Weihnachtskelch; wir kennen die Überlastung der Krankenhäuser zu feuerlichen Feiertagen. Wer unterscheidet da schon zwischen dem beipassten Herzen eines alten Mannes, dass aus aufgeregter Liebe zur Feierlichkeit einen Schlag erleidet, und einer heimtückischen Hinrichtung. Der Mensch ist fehlbar, so viel ist klar, schließlich hatte er sich sie alle schon zum Geschenk gemacht, ausgepackt und missgebraucht. Erste Hilfe geleistet zu haben war ebenso wichtig. Die Fakten mussten sprechen: mehr Mitleid als Missgunst. Kein Ermittler würde einer trauernden Familie Fragen stellen, sich wagen den hilfsbereiten Opfer des tragischen Todes üble Absicht unterzustellen. Keine Leichen im Keller, nur ein toter Großvater mit einem von Weihnachtlichkeit zerschlagenem Herzen, dem die Liebe seiner Nächsten nicht zu helfen vermochte. Das Stigma muss verhindert werden, das inszenierte Drama einer unter einem Nachkriegsfaschisten leidenden Familie voller Opfer und schweigender Mittäter durfte ihre Kreise nicht verlassen.
Eingeweiht war, wer gegen ihn war oder nichts verhindert hätte. Gerechtigkeit, die gab es nicht. Das Tribunal tagte gegen ihn, der alte Mann in den Tod. Ihr letzter Wille zur Freiheit hatte viele Vorfahren. Erst wurde er in den Keller des Hauses, heraus aus dem Leben, später in den Schuppen verbannt. Keine Maßnahme aber konnte aus seinen Gefangenen Wärter machen, gegen die er sich nicht durchzusetzen wusste. Zeitweise wachten sie in Schichten über seine Lieblinge, in der Hoffnung ihr Leib und Gegenwehr würde seine Sinne von den Jüngsten lenken. Allen präsentierte er seine Macht, als Freizügiger, Nudist. Trug seinen Körper als Instrument patriarchalischer Herrlichkeit in ihre hinein.
Der Winter segnete diese Weihnacht mit Schnee. Das abgelegene Haus mit seinem anliegenden Waldstück und den abschüssigen Zuwegen lag im blauen Zwielicht einer klaren Nacht. Während draußen Eiskristalle im sanften Mondwind klirrten, knisterte drinnen der Kamin. Das Haus war voller Leben, Familien machten das große Esszimmer eng. Kinder warteten ungeduldig auf das erlösende Läuten der Beschehrungsglocken während sich Erheitert wurde. Die alten Doppelglasscheiben beschlugen im Holzrahmen und Atem auf ihnen.
Als endlich alle Einlass in die Weihnachtsstube fanden, zu der das Wohnzimmer dekoriert war, war sie noch nicht unter ihnen. Sie musste ihre Kraft für das Bevorstehende sammeln. Sogar ihren Sohn hatte sie vorgeschickt, wollte ihn von Weihnachtsstimmung und Geschenkegier blenden lassen. Sie war im Begriff ihre Familie zu betrügen und ihm den Großvater zu nehmen. Doch es war ihr gemeinschaftlicher Wille, es war entschieden. Ihren Platz an der Tafel besetzte sie spät, aß kaum.
Nach einem ausgiebigen, größtenteils vegetarischen Abendmahl nahmen die Glücklichen Gesättigten vor der Glasfront, zu deren linken eine prunkvoll glühende Tanne stand, Platz. Eine kleine Gruppe Großvaters Engster schritt hinter die raumteilende Bücherwand und nahm vor dem Kamin einen guten Schluck. Vor dem Fenster rieselten Schneekuppen vom Horizont des Flachdaches herab, der Friede lag im Land. Zwischen zwei Geschenkbandschleifen, neben dem Möbiusband im Raumtrenner, schlug er auf: der Dämon war gefallen.
Die Sirene erreichte die Abfahrt der Landstraße, der Zuweg musste gestiefelt werden, die Rettung reitet Vorderräder. Die Entscheidung war schnell getroffen, der Patient lebt. Angehörige diskutieren über Begleitpersonal, während Sanitäter den Wanst des Patriarchen schleppen.
Die Botschaft seines Todes erhallt noch immer, war er doch Wohltäter und Menschenfreund. Humanitäre Hilfe leistete er in der Welt, war ein Genießer der Künste und belesener Mann. Er war nicht Veteran, da Pazifist, liebte die Kinder. Wohlstand sicherte er seiner Familie als Akademiker, der aus Arbeiterüberresten des gefallenen Reiches emporstieg.
“Da kamen […] Elternpaare mit ihren Kindern und Adoptivkindern im Naturfreundehaus […] zusammen.” - […] (2002)